In Münster lebte vor vielen Jahren die Familie Schreier. Sie bestand aus Vater, Mutter und der 3 Jahre alten Tochter Katja.

Der Vater war von Beruf Vertreter, stets beschäftig und viel unterwegs. Da die Geschäfte nicht gut gingen, hatte er oft schlechte Laune. Wenn er abends nach Hause kam, wollte er nur noch seine Ruhe haben. Die Mutter hatte viel Ärger mit ihrem Mann, war kränklich und mit dem Kind und dem Haushalt überfordert. Wenn Katja ihre Spielsachen herumliegen ließ, waren Vater und Mutter oft genervt und schimpften mit ihr, sie solle nicht so herumtoben und ihre Sachen aufräumen.

Eines Tages ging Katja mit ihrer Mutter in ein großes Geschäft zum Einkaufen. Hier gab es für kleine Kinder viel zu sehen. Die Mutter schob ihren Einkaufswagen durch die Gänge, packte hier und da etwas ein und war, wie so oft, in Eile. Da entdeckte Katja etwas, das sie gerne aß, jedoch selten bekam. Sie sah einen großen Eisschrank mit einer gläsernen Tür. Darin gab es Eis, und Eis war etwas, das sie ganz besonders gerne hatte. So zeigte sie auf die Tür und sagte: „Mama, ich will ein Eis.“ Die Mutter war nicht gut drauf und sagte: „Nein.“ Wie Kinder so sind, die unbedingt etwas haben wollen, wiederholte sie die Bitte: „Mama, ich will ein Eis.“ Auch diesmal sagte die Mutter nein, wobei ihr Tonfall bereits schärfer war als vorher. Katja wollte einfach nur das Eis und fingt an zu quengeln und begann auch noch laut zu weinen: „Ich will ein Eis, ich will ein Eis.“

Einige Leute, die ebenfalls einkauften, bekamen diese Szene mit, gingen vorbei und schüttelten den Kopf. Frau Schreier bekam ein rotes Gesicht. Ihr platzte der Kragen und sie keifte mit einer Stimme, die Katja gut kannte: „Hör endlich auf zu heulen, du blamierst mich vor allen Leuten. Du bist sehr ungezogen, du bekommst kein Eis und damit Schluss. Und wenn du weiter so schreist, gehst du gleich ins Bett, wenn wir nach Hause kommen.“ Katja weinte noch ein wenig, wurde dann allerdings still. Wieder zu Hause brachte die Mutter sie sofort in ihr Zimmer, zog sie aus und steckte sie ins Bett.

Ein wenig später kam der Vater nach Hause, er war müde und mürrisch. Als er sich ins Wohnzimmer gesetzt hatte, schlich Katja hinein und sagte: „Papa, ich will nicht im Bett bleiben.“ Die Mutter, die das hörte, kam ins Zimmer und sagte: „Ich habe dir doch gesagt, dass du ins Bett musst, weil du so böse warst.“ Der Vater setzte noch, mit ebenfalls gereizter Stimme, nach: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Dann brachte die Mutter das Kind zurück ins Bett.

Katja war traurig, sie weinte und fühlte sich in dieser Nacht sehr einsam. Von da an war sie ein zurückhaltendes Kind. Auch als Jugendliche fühlte sie sich oft so allein, wie in jener Nacht. Selbst als Erwachsene verhielt sie sich sehr still. Immer war sie darauf bedacht, nicht in einen Streit zu geraten. Sie tat alles, damit die Menschen sie mochten. Und wenn sie um irgendeinen Gefallen gebeten wurde sagte sie ja, auch wenn sie am liebsten nein gesagt hätte.

Hatte diese Entwicklung mit dem Eis begonnen?